5000 Seiten

Mathilda Augart, Emma Brunet, Lisa Buffagni, Yan Chmarau, Bimal Fabbri, Kurt Fritsche, Joshua Gottmanns, Yunsun Kim, Mano Leyrado, Noah Lübbe, Noomi Pyk, Belen Resnikowski, Sigune Roloff, Anabel van Tilborg, Fred Unruh, Julius Voigt, Anna Zachariades

Student:innen der Bildhauerklasse von Albrecht Schäfer und Antje Engelmann an der Kunsthochschule Weißensee reagieren mit ihren Arbeiten auf die Produktivität des norwegischen Künstlers Edvard Munch mit Arbeiten aus Papier.

Ausstellungseröffnung: Freitag, 17. Juni 19 – 21 Uhr
Öffnungszeiten:
18. Juni – 31. Juli 2022, Donnerstag bis Sonntag, 12-17 Uhr

Die Studierenden schreiben zu ihrem Projekt:

5000 Seiten.
Was macht ein Blatt zur Seite?
Ein Blatt hat zwei Seiten. Wirklich?
Ist die Seite das mit Informationen versehene Blatt oder schon die Information selbst? 5000, so in etwa die Anzahl der Seiten, die Edvard Munch während seines Aufenthalts in Warnemünde 1907/08 beschrieben, bezeichnet, bemalt, benutzt und der Nachwelt in fragmentarischer Form hinterlassen haben soll. Wo beginnt eine solche Seite, wo hört sie auf? Jeden Morgen soll er Unmengen von Seiten produziert haben. Darunter Briefe an Verwandte, Bekannte, Freund*innen und Kolleg*innen, lose Notizen, Schmierereien, Gesten.

Was sind diese 5000 Seiten im Vergleich zu der schieren Masse an Informationen, die wir Tag für Tag in unsere Computer und Telefone tippen und sprechen, die wir abwerfen wie Ballast und gleichsam anderswo anhäufen, minutenlange Monologe und Memos, die wir in Form von Sprachnachrichten um die Welt schicken? Wie viel hast Du heute kommentiert, formuliert und paraphrasiert? Wie viele Seiten füllt dein Denken tagtäglich?
Im post-post-modernem Diskurs stehen wir in den Künsten mit dem Rücken zur Wand. Zwischen düsteren Szenarien eines imaginierten Supercollaps, den die Babyboomer und Gen-X fantasielos heraufbeschwören und den blassen Luftschlössern bereits erdachter Utopien, entwickeln sich mitunter skurrile Chimären ästhetischen Trashs und inhaltlicher Schwere. Kunsthistoriker*innen legitimieren Kunst mehr denn je politisch oder theoretisch.
Und was tun wir?
Als Studierende der freien Künste befinden wir uns gefühlt – mal mehr mal weniger – im Auge des Sturms dieser Kämpfe, um die Bedeutung von Kunst im Spätkapitalismus des 21. Jahrhunderts. Allein der Begriff der Bildhauerei könnte verzerrter nicht sein. Das postbourgeoise Publikum versetzt er in romantisches Schwelgen über Körper aus Carrara-Marmor und uns Bildhauer*innen bringt er mitunter in Erklärungsnöte, wenn wir mit prekären Materialien, gefundenen Objekten und flüchtigen Projektionen versuchen ein Bild
unserer Zeit zu zeichnen.
Auf welcher Seite stehen wir? Welches Blatt lässt sich hier noch wie wenden? Wie aus Geisterhand gibt uns Munch nun ein simples Prinzip der Kunst zurück und fordert uns damit gleichsam heraus.

5000 Seiten.
Welche Potenziale bergen diese Seiten und wie werden sie? Mit dem Graphitstift auf dem leeren Blatt, mit der Kamera, mit Maché, mit kleiner oder großer Geste nähern wir uns an. Durch einen Akt des Beschreibens, der uns eigen wird. Oder auch nicht. Mit Munch und vielleicht auch zum Teil gegen ihn. Wie gehen wir mit diesem Geist um, wie beerben wir ihn? „Wir müssen das Erbe [Munchs] übernehmen, wir müssen das ‚Lebendigste‘ davon übernehmen, das heißt paradoxerweise dasjenige davon, was niemals aufgehört hat, die Frage des Lebens zu stellen, die Frage des Geistes oder des Gespenstischen, die Frage von Leben-und-Tod jenseits der Opposition von Leben und Tod.“ (Derrida)
Wir nehmen die Herausforderung und die Einladung an und bedanken uns herzlich bei den Verantwortlichen des Edvard-Munch-Hauses in Warnemünde für diese Möglichkeit.